Der Zeitgenosse - Buchkritik
Pressedienst Nr. 3, (April 1997)
Rachid Boudjedra: »Sie Unordnung der Dinge«

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Der Algerienroman

Rachid Boudjedra: »Die Unordnung der Dinge«
Roman. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 1995
241 Seiten, geb. DM 38,-

Der 1941 in Ostalgerien geborene Rachid Boudjedra gehört zu den bedeutendsten Autoren der arabischen Welt. Er verfaßt seine Bücher in einem mehrwöchigen Rauschzustand, wobei er sich in einen abgeschlossenen Raum zurückzieht, kaum schläft und ißt. Die Texte erreichen hier noch ihre endgültige Form.
Ende der sechziger Jahre hatte sich Boudjedra auf diese Weise mit seinem Erstling »Die Verstoßung« seine Kindheits- und Jugendtraumata vom Leibe geschrieben. Der Roman bedeutete nicht nur im islamischen Kulturraum einen Skandal. In sturzbachartigen Rhythmen wurde hier aus - der Erinnerung eines vom Boumedienne-Regime 1965 Gefolterten beschrieben, wie sich der Vater - ein reicher Händler - während eines Mittagessens entschließt, der dreißigjährigen Mutter den Status der Ehefrau zu entziehen und ein junges Mädchen zu heiraten. Die Verstoßene bleibt in materieller Abhängigkeit vom Ehemann, sie und ihre Kinder führen fortan ein erniedrigtes Leben. Während der ältere Bruder im Alkohol zugrundegeht, gelingt dem Erzähler ödipale Rache: ein Liebesverhältnis zur Stiefmutter.
Diese erotischen Delirien erregten trotz ihrer kunstvollen Form auch in Frankreich Widerspruch, manche hielten sie für "genialische Pornographie". Weil der Autor das für den Prix Goncourt erforderliche Mindestalter von 30 Jahren noch nicht erreicht hatte, stiftete Jean Cocteau für ihn einen neuen, für "enfants terribles" gedachten Preis. In Algerien war der Roman bis Ende der siebziger Jahre verboten, sein Autor lebte im Exil in Tunesien, Marokko und Frankreich.
Die Verbindung, ja Gleichsetzung der Zerstörung des Lebens der Mutter und die Folterung des Sohnes sollten zeigen, daß Algerien auch nach der Unabhängigkeit noch nicht zu einer gerechten Gesellschaft gekommen war. Nachdem er ein Jahrzehnt in seinem Land gelebt und etwa zehn weitere äußerst systemkritische Romane, teils in Französisch, teils in Arabisch geschrieben hat, mußte Boudjedra seit einigen Jahren wieder beginnen, sich zu verstecken, bzw. im Ausland zu leben. Diesmal ist sein Leben aber nicht mehr vom (formal demokratisierten) Staat bedroht, sondern von den Islamisten, die schon Hunderte von linksdemokratischen Intellektuellen umbrachten.
Der 1991 in Frankreich publizierte Roman »Die Unordnung der Dinge« versteht sich als Zeichen, daß die in der Verstoßung beschriebene Situation immer noch anhält, daß dieselben Probleme nur in anderem historischen Gewand auftreten. Der damalige, nun gealterte Erzähler ist jetzt Arzt,
konfrontiert mit entsetzlichen Verstümmelungen, den Folgen der während der Jugendrevolte von 1988 von den Ordnungskräften erneut angewandten systematischen Folterungen. Weil die heutige algerische Gesetzgebung die Lage der Frauen juristisch und real immer noch nicht geändert hat, drängt sich dem Arzt nun auch wieder das Bild der entehrten Mutter auf - zum Teil neu erzählt, zum Teil wiedergegeben in langen Zitaten aus der »Verstoßung«. Hinzu kommen neue Erinnerungen wie die Geschichte der Hinrichtung eines mit der Befreiungsfront arbeitenden französischen Kommunisten (dessen Begnadigung vom damaligen Innenminister abgelehnt wurde. Das war Mitterrand, der später die Abschaffung der Todesstrafe als größte Leistung seiner Präsidentschaft pries). Besonders mit diesem Erzählelement wird sowohl die negative als auch die positive, jedenfalls unleugbare Verflechtung Algeriens mit Frankreich deutlicher gemacht als in der »Verstoßung«.
Obwohl ein zunächst in die Morgue abgeschobener, vom Arzt/Erzähler dann aber doch wieder zusammengeflickter Gefolterter vielleicht den Triumph des Lebenswillens symbolisieren soll, wird vor allem die Resignation des Erzählers deutlich. Diesmal erinnert er keine fröhliche ödipale Rache, sondern den Tod der für die Ehe viel zu jungen Stiefmutter, der in der Hochzeitsnacht oder bei der ersten Geburt stattgefunden haben kann. Einen ermutigenden Ausblick, wie ihn das (hier ebenfalls in Zitaten erinnerte) Liebesverhältnis zu der Französin Aline am Ende der Verstoßung darstellte, kennt dieser Roman nicht. Erzähler und Geschichte rotieren nun in einer ewigen Zentrifuge der Zerstörung. Der wiedererweckte Gefolterte will nur noch weiterleben, um Rache zu üben. Für Kenner der neueren algerischen Geschichte ist klar: diese Gestalt wird in der - außerhalb des Romans liegenden - späteren Realität zu den Islamisten stoßen.
Solcher Pessimismus hindert Boudjedra nicht, seine sprachlichen Spezialitäten - das schon oft, aber in immer wieder neue Worte gegossene dumpfe Dahinmodern der Städte Constantine und Algier sowie gemäldeartig geschilderte Gewalt und Sexualität - in großer Schönheit erneut auszubreiten. Durch die stets erhaltene humanistische Haltung des Schreibers sind hier dann in der Tat Bilder von Realität erkennbar, keine Pornographie.
Gute oder auch nur lesbare Übersetzungen aus dem islamischen Raum sind wegen der schlechten Bezahlung solcher Arbeiten heute äußerst selten. Drei Stiftungen mußten zusammenlegen, damit sich Eva Moldenhauer die Ruhe nehmen konnte, die nötig war, um dieses sprachgewaltige Werk in ein adäquates Deutsch zu bringen. Man darf sie zu dem Ergebnis beglückwünschen. Der Verlag hätte sich für dieses in vielerlei Hinsicht kostbare Buch freilich ein schöneres Format als das vorliegende, schulbuchartige, überlegen können.
Dr. Sabine Kebir

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