Dieter Hildebrandt


22. Januar 2009
20.00 Uhr
Eine Emanzipationsgeschichte des Denkens

Der Wissenschaftsautor Dieter Hildebrandt
stellt sein Buch vor
»Die Sonne. Biographie unseres Sterns«

Lesung mit Diskussion


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Buchcover: Dieter Hildebrandt "Die Sonne"

Ohne die Sonne ist die Menschheitsgeschichte nicht denkbar. Unser ganzes Denken und Fühlen dreht sich, bewußt und unbewußt, ebenso um sie, wie der Planet Erde um sie kreist. Dieter Hildebrandt hat eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte geschrieben, die bei Echnaton anfängt und bei Einstein noch lange nicht aufgehört hat - spannend, interessant und lebendig wie das Leben selbst: "Der Mensch wird scharfsinnig, indem er sich an der Welt, der Umwelt, der Himmelswelt abarbeitet. Er tritt vor, indem er hinter die Dinge kommt. Der größte Wetzstein für seinen Verstand war und ist die Sonne."

Dieter Hildebrandt - Veranstaltung am 22.1.2009_1

Aus der Einführung von Mira Maase:

Der 22. Januar 2009 scheint ein Tag zu sein wie alle anderen, ist aber für die Kundigen ein ganz besonderer Tag. Als ich mit unserem heutigen Referenten Dieter Hildebrandt seinen Buchvorstellungsabend bei uns im Kulturzentrum für diesen Tag abmachte, sagte er nämlich hocherfreut: An diesem Tag komme ich umso lieber, als heute einer meiner Lieblingsautoren, nämlich Lessing, Geburtstag hat. Tatsächlich ist Gotthold Ephraim Lessing, eine Zentralfigur der klassischen deutschen Aufklärung, heute vor genau 280 Jahren geboren worden. Was liegt also näher, als mit einem philosophischen Lehrgedicht diese Einführung zu beginnen aus der Feder von keinem Geringeren als eben diesem Lessing?!


Gotthold Ephraim Lessing

Die Sonne

Der Stern, durch den es bei uns tagt -
"Ach! Dichter, lern, wie unsereiner sprechen!
Muß man, wenn du erzählst,
Und uns mit albern Fabeln quälst,
Sich denkend noch den Kopf zerbrechen?"
Nun gut! die Sonne ward gefragt:
Ob sie es nicht verdrösse,
Daß ihre unermeßne Größe
Die durch den Schein betrogne Welt
Im Durchschnitt größer kaum, als eine Spanne, hält?
"Mich", spricht sie, "sollte dieses kränken?
Wer ist die Welt? wer sind sie, die so denken?
Ein blind Gewürm! Genug, wenn jene Geister nur,
Die auf der Wahrheit dunkeln Spur,
Das Wesen von dem Scheine trennen,
Wenn diese mich nur besser kennen!"
Ihr Dichter, welche Feur und Geist
Des Pöbels blödem Blick entreißt,
Lernt, will euch mißgeschätzt des Lesers Kaltsinn kränken,
Zufrieden mit euch selbst, stolz wie die Sonne denken!

Gotthold Ephraim Lessing


Gemeint ist über das sichtbare und auch materiell-physikalisch inzwischen einigermaßen erforschte Gestirn, das wir Sonne nennen, hinaus ihre metaphysische Ausstrahlung als Sonne der Aufklärung, die uns erleuchten soll.

Dieter Hildebrandt hat über diesen Lessing übrigens in diesem Sinne eine aufklärende Biographie geschrieben, die zur Zeit leider vergriffen ist, aber hoffentlich bald wieder einmal aufgelegt wird. Die Lessing-Biographie schließt mit einem Lessing-Zitat, das anzeigt, daß Lessings Zeit nicht abgelaufen ist, sondern wiederkommen wird.

"Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge und stolz -"

Dieter Hildebrandts Buch über die Sonne - im Untertitel »Biographie unseres Sterns« genannt - ist also so etwas wie die Fortsetzung seiner Lessing-Biographie auf einer höheren Stufe. Der Blick hat sich zum Panoramablick erweitert.

Dieter Hildebrandt - Veranstaltung am 22.1.2009_2

Die Blickwinkel, aus denen die Betrachtung der Sonne in der Geistes- und Kulturgeschichte behandelt wird, sind also gleichsam eine Geschichte der Aufklärung. Diese Blickwinkel umfassen Astronomie, Physik und Chemie, Mathematik, Philosophie, Religionsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und last not least die Dichtung. Die Perspektive, in der Dieter Hildebrandt auf alle diese Geschichten in Bezug auf die Bewußtseinsentwicklung der Menschheit schaut, entspricht in etwa der Sicht von Aristoteles, der als ersten Satz seiner »Metaphysik« formulierte: "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen." Ein Satz, dem der Kirchenvater Tertullian widersprochen hat, den er aber nicht widerlegen konnte, wenn er als Theologe dagegenhielt: "Wißbegierde ist uns nicht mehr vonnöten nach Jesus Christus, noch Forschung nach dem Evangelium." Vielleicht sollten wir nach diesem Widerspruch der Theologie den aristotelischen Begriff des Wissens durch den moderneren Begriff der Erkenntnis ersetzen; dann wäre das Streben nach Erkenntnis nicht um des bloßen Wissens willen, sondern zum Wohle der Menschheit das humanitäre Ziel, das bei Lessing im 18. Jahrhundert mit einer verblüffenden Eindeutigkeit so ausgedrückt wird: "Die Menschen werden erst dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen." Brecht, der Dichter, läßt seinen Galilei 200 Jahre später sagen: "Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein."

Dieter Hildebrandt - Veranstaltung am 22.1.2009_3
Fotos: © Hans-Peter Mundt

Internet Artikel in Wikipedia über Dieter Hildebrandt

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