Theaterkritik: Aargauer Tagblatt, 4. Juni 1996
Klaus Henner Russius »Das Nibelungenlied«
Von Sonja Augustin

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»Das Nibelungenlied« mit Klaus Henner Russius in Zürich

Eine mordsmäßige Heldensaga

Der Schauspieler Klaus Henner Russius hat seine Leidenschaft für die Kunst des Erzählens entdeckt. Nach seinem überaus erfolgreichen »Michael-Kohlhaas«-Solo hat er sich mit dem »Nibelungenlied«, das er im Zürcher Puppentheater ebenfalls im Alleingang bewältigt, einen noch viel gewaltigeren Brocken vorgenommen.

Damit bietet Russius seinem Publikum nicht nur einen faszinierenden Theaterabend, sondern auch die recht seltene Gelegenheit, sich das mythenumrankte, von unbekannter Hand im 12. Jahrhundert zu Papier gebrachte Versepos um Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache in originaler, wenn auch um neun Zehntel verkürzter und vom Mittel- ins Neuhochdeutsche übertragener Form auf höchst lebendige Art zu vergegenwärtigen.

In seiner sehr anschaulichen Erzählung leben sie alle wieder auf, die königlichen Brüder Gunther, Gernot und Giselher aus Burgund, ihre schöne Schwester Kriemhild und ihr finster-durchtriebener Gefolgsmann Hagen, der wackere Drachentöter Siegfried und die von ihm in Alberichs Tarnkappe an Gunthers statt bezwungene Brunhild, die sich für die ihr zugefügte Schmach rächt, indem sie den scheinbar unverwundbaren Siegfried durch Hagen ermorden läßt, was wiederum bei der Siegfried-Witwe Kriemhild fürchterliche Rache auslöst und nebst diversen schauerlichen Einzelmorden unter den Hunnen und Burgundern an König Etzels Hof in einem abscheulichen Gemetzel Tausende an Menschenleben fordert.

Ironische Distanz

Unter der Regie des auch selbst als Erzähl-Virtuose bewährten Enzo Scanzi fungiert Russius, dessen äußerer Aktionsradius sich auf einen Tisch und einen Stuhl beschränkt, nicht nur als ein die Zuhörer sehr direkt ansprechender, bezüglich des Stoffes aber feinfühlig eine gewisse ironische Distanz wahrender Erzähler - nichts läge ihm ferner als heutzutage unangebrachtes Heldenpathos -, sondern er schlüpft auch in wendigem Wechsel in die Rollen der Protagonisten, von denen er jeden einzelnen mit individuellen Zügen und Eigenschaften charakterisiert, so etwa den eher jämmerlichen König Gunther als nicht sehr intelligenten Stotterer oder den Hunnenkönig Etzel, Kriemhilds zweiten Gatten, mit leicht böhmelndem Akzent

Souveräne Leistung

So leichtfüßig und souverän, wie Russius neben der Sprache auch Mimik und Gestik meistert und die Rollen wechselt, geht er auch mit den Textabschnitten um, um weggelassene Passagen zu überbrücken. "Dann begann ein Riesenpalaver..." sagt er etwa beiläufig oder auch nur schlicht "Viel später...". Und als des grimmigen Mordens und der erschlagenen Helden doch einmal ein Ende ist, weil es keine Überlebenden mehr gibt (warum nur hat Shakespeare diesen Stoff nie aufgegriffen?), schließt er überraschend mit dem nüchtern treffenden Hinweis darauf, daß diese blutige Geschichte sich auch heute noch immer wieder ereigne (bis 8. Juni).

Sonja Augustin

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