Buchkritik Kurt Flasch
»Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron«

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Süddeutsche Zeitung vom 24. Februar 2003

Ach, Griselda

Kurt Flasch restauriert Boccaccios »Decameron«


"Vernunft und Vergnügen" verspricht Kurt Flasch, emeritierter Professor für Philosophie, seinen Lesern mit diesem schönen und originellen Buch: "Es besteht aus zwei Teilen: der erste bringt eine Auswahl von Liebesgeschichten, die ich neu übersetzt habe. Anschaulich und witzig, wie sie sind, lassen sie sich auch nur zur Unterhaltung lesen. Doch wer sie liest, verwickelt sich in Fragen" - und schon sind wir beim zweiten Teil, dem Essay »Liebe im Decameron«.

Boccaccios Welterfolg hat der Autor vor nunmehr zehn Jahren schon einmal interpretierend umworben (»Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron«, 1992), damals aber um den Schluß des »Decameron« einen großen Bogen gemacht. Jetzt geht es vor allem um diesen Schluß, die zehnte Geschichte des zehnten Tages, also um Griselda, jene Bauerntochter, die vom Markgrafen Gualtieri geheiratet wird und dessen Quälereien ohne zu murren erträgt.

Das Verständnis der Geschichten des Decameron hängt zu einem nicht geringen Teil vom Stil und vom Ton ab. Wie klang diese Prosa in ihrer florentinischen Umwelt vor 650 Jahren? Schon die Wahl der italienischen Prosa war bemerkenswert und modern - aber heute klingt das damals so moderne Italienisch natürlich archaisch.

Übersetzungen pflegen diese Wirkung mindestens teilweise zu respektieren - und überdies altern sie noch schneller als die Werke selber, so daß z. B. die zu ihrer Zeit sehr moderne Übersetzung des 1928 gestorbenen Klabund heute ein bißchen altertümlich italienisch und ein bißchen altmodisch deutsch klingt. Kurt Flasch hat diese Klippen mit großem Geschick umfahren. Seine Übersetzung ist sehr genau, zugleich aber modern, ohne es zu verheimlichen.

Jener toskanische Abt z. B., der den "unsäglich groben und blöden Kerl" Ferondo ins Fegefeuer schicken wird, um sich mit dessen schöner Frau vergnügen zu können, "ertrug den Umgang mit ihm nur, weil er seiner Dummheit einen gewissen Unterhaltungswert abgewann". Genauso richtig hieß das bei Klabund: "... und an dessen Umgang er weiter keinen Gefallen fand, als daß er sich bisweilen mit seiner Einfalt einen Spaß machte." Bei Flasch hört man, daß hier weder die Erzählerin Lauretta noch der Autor Boccaccio redet oder schreibt, sondern der Übersetzer, der mit dem nagelneuen deutschen Wort "Unterhaltungswert" den Sarkasmus des Gedankens noch zusätzlich ironisch aufblitzen läßt.

Aber nicht nur die Geschichten selber, auch den Essay liest man durchgehend mit Vergnügen und Zustimmung. Wie gern folgt der moderne Leser dem Philosophen, wenn er scharfsinnig und ein wenig sarkastisch richtig stellt, daß es hier keine monastisch-asketischen Normen gibt, daß die Liebe im »Decameron« von Natur ihr eigenes Recht besitzt, nicht zum Ruhme der Ehe stattfindet, eine Naturgewalt, die man auch göttlich nennen mag. Von Liebe zu Gott ist dagegen nirgends die Rede, und nirgends bezeichnet das Wort die christliche Nächstenliebe. Das Unglück der Personen findet auch keinen Trost im Glauben: "Keiner dieser Verzweifelten spricht ein Gebet."

Die frommen Übermalungen

Ein kleines Kapitel ist der "Heiterkeit Boccaccios" gewidmet. Aber flieht die kleine Gesellschaft, die sich die Geschichten erzählt, nicht vor der Pest, sitzt ihr nicht das Grauen im Nacken? "Die Heiterkeit Boccaccios kommt von der Kunstform ironischer Distanz ..., sie kommt nicht aus dem wirklichen Leben", antwortet Flasch. Die Aufmerksamkeit auf die "Kunstformen" der Rede erlaubt dem Interpreten, das Wesen dieser Heiterkeit als literarische zu bestimmen.

Da gelingen dem Autor überzeugende Analysen, und obwohl er von der Literaturwissenschaft nicht wirklich ernsthafte Aufhellung erwartet, handhabt er ihre Techniken nahezu souverän: gewiß hätte er den peinlichen Begriff "Textsorten" entbehren können, um zu dem überzeugenden Schluß zu kommen: "Das Decameron in seinen Liebesgeschichten ist eine konsequent gehaltene Kritik an den damals herrschenden Formen, über Liebe zu sprechen; deswegen sind in ihm die Reden fast wichtiger als die Handlungen."

Daß es so viele Handlungen und, jedenfalls aus dem Munde der Griselda, fast keine Reden gibt, macht die letzte Geschichte doppelt problematisch. Polemisch schreibt Flasch: "Einigen Auslegern ist es so sehr um eine fromme Interpretation zu tun, daß es ihnen gleichgültig ist, ob Griselda den Gehorsam Christi oder die Demut der Madonna repräsentiert, wenn nur etwas Religiöses herauskommt ... ".

Freilich, da gibt es einen frühen Interpreten, dessen Würde ihn vor nur zu verdientem Spott zu schützen scheint: Petrarca. Als Zeitgenosse und Freund des Autors macht er aus der Erzählung eine Geschichte von Gehorsam und Treue einer Ehefrau. Zwar wollte er, so Flasch, "nicht Ehemoral lehren mit seiner Übersetzung, sondern religiöse Ergebung in Gottes Willen," aber verstanden haben das nicht viele. Seine Übersetzung, eher eine radikale Umdeutung, hat er lateinisch abgefaßt. Als sie nach Deutschland kam, war kein Halten mehr, da war es eine Geschichte "den Ehleuten und allen Menschen zur Besserung".

Die antiken Lehrer

Auch in der hundertsten Geschichte bewähren sich Talent, Gelehrsamkeit, Erfahrung und kerngesunder Menschenverstand des Autors, auch gegenüber Petrarca. Boccaccio ist "ein Denker der Liebe in Ungewißheit". Hier ist der Philosophieprofessor in seinem Element: "Wir legen Dichtung in die Hände der Literaturwissenschaftler und glauben, dort sei sie gut aufgehoben, und das mag auch zuweilen sein, aber nur wenn der Literaturprofessor auch ein Philosoph ist." Nur dann versteht er, daß Gualtieri "eine durchdachte Kunstfigur" und Griselda "eine Leitfigur der Stoa-Rezeption des frühen Humanismus" ist.

Als Diskursarchäologe legt der Philosoph hier die Schichten frei, die von christlichem Kulturgut überlagert, ja verschüttet waren: die antike Tradition der Weisheit, wie Cicero und Seneca sie vertraten. Und die Literaturwissenschaftler bekommen ihren verdienten Seitenhieb: "Die Griselda-Erzählung ist eine poetische Meditation über ein Lebenskonzept reiner Selbstbestimmung. Sie wurde in dieser ihrer geschichtlichen Stellung bisher nicht erkannt, weil Literaturwissenschaftler von heute zwar alles mögliche lesen, indische Märchen und französische Poststrukturalisten, nicht aber Cicero und Seneca."

Den Literaturwissenschaftlern zum Trost: es genügt doch nicht, Cicero und Seneca zu lesen. Hatte Petrarca sie etwa nicht gelesen? Und er ist doch der erste, der genau das Skandalon einer nach antikem Vorbild konzipierten säkularen Moral wegübersetzt - und die latinisierte und christianisierte Geschichte noch dazu mit einem Brief freundschaftlich an den Erfinder zurückschickt. Und nicht einmal Boccaccio selbst hat sich ja mit Cicero und Seneca zufrieden gegeben: In drei wichtigen Punkten erkennt Flasch dessen eigenen, gegenüber der antiken Tradition durchaus revolutionären Neuansatz: Sein Weisheits-Ideal ist erstens nicht nur männlich, es schließt zweitens auch die Liebe nicht aus, und den festen Halt findet Griselda drittens nicht im Kosmos, sondern allein in sich, in ihrer eigenen Seele. Und so wie Boccaccio sich nicht damit begnügt hat, das antike Vorbild zu übernehmen, können wir uns nun fragen, was unter den Denkbedingungen des 21. Jahrhunderts zu einer säkularen Moral taugen könnte.

Freilich wird die Geschichte der Griselda dadurch nicht erträglicher. Das spürt unsereiner so gut wie der Philosoph Kurt Flasch, wie schon Boccaccio und sein fiktiver Erzähler Dioneo, wenn er sich sehr wohl vorstellen kann, daß die beleidigte, geschändete Griselda recht daran getan hätte, wenn sie "sich von einem anderen Kerl das Pelzchen hätte reiben lassen".

Nicht die Geschichte der Griselda, sondern der freche Kommentar dazu ist das "letzte Wort" in dieser letzten Geschichte. Boccaccios Geschichten lehren nicht, sagt weise der Interpret, sie geben zu denken.

HANS-HERBERT RÄKEL

KURT FLASCH:
»Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron«.
C.H. Beck Verlag, München 2002. 247 Seiten, 24,90 Euro.


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